Aktuell
INTERNATIONALER TAG DER PROVENIENZFORSCHUNG AM 10. APRIL 2024
Woher stammen die Kunstwerke, die sich heute in unserer Sammlung befinden? Wem gehörten sie zuvor? Wer hat sie verkauft, vererbt, getauscht oder geschenkt? Wem wurden sie möglicherweise unrechtmäßig entzogen?
Am Mittwoch, dem 10. April 2024 um 15 Uhr stellt Ihnen Dagmar Lott ihre Arbeit als Provenienzforscherin am Ernst Barlach Haus vor. Sie berichtet von den Fragestellungen und Methoden ihres Forschungsbereichs, über ihre Recherchen und Ergebnisse. Im Fokus stehen ausgewählte Werke aus unserer Sammlung, deren wechselvolle Besitzgeschichte Auskunft über das Schicksal der Werke Ernst Barlachs während der Zeit des Nationalsozialismus und über den Kunsthandel der Nachkriegszeit gibt.
Initiator des Aktionstags ist der Arbeitskreis Provenienzforschung e. V., ein internationaler Zusammenschluss von über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Einblicke in den aktuellen Wissensstand rund um unsere Bestände vermittelt Ihnen ein neues digitales Angebot: Erkunden Sie alle Skulpturen und Zeichnungen unserer Sammlung hier.
Eine Frage der Herkunft
Provenienzforschung im Ernst Barlach Haus
Bereits 2002 und 2007 dokumentierte das Ernst Barlach Haus seinen Bestand an Zeichnungen und Skulpturen in zwei reichhaltigen Sammlungsbänden. Dabei wurden auch wesentliche Daten zu Herkunft und Objektbiografien der Kunstwerke veröffentlicht. Seit 2015 erforschen wir die Provenienzen unserer Bestände erneut und überprüfen die Sammlung systematisch auf NS-Raubgut. Damit hat das Ernst Barlach Haus unter den privat getragenen Museen in Deutschland eine Vorreiterrolle übernommen.
Gemäß den Grundsätzen der Washingtoner Konferenz von 1998 (»Washington Principles«) ist unser Forschungsziel, Kunstwerke zu ermitteln, die zur Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) ihren Eigentümern verfolgungsbedingt entzogen wurden, und sie gegebenenfalls zu restituieren oder in gegenseitigem Einvernehmen mit den rechtmäßigen Eigentümern für die Sammlung zu erhalten.
Ausgehend von den Werkakten und vorhandenen Bestandskatalogen werden die Provenienzen aller Skulpturen, Zeichnungen und Grafiken des Ernst Barlach Hauses mit Hilfe aktueller internationaler Datenbanken wie Lost Art oder German Sales erneut untersucht und digital erfasst. Grundlage für diese weitergehenden Forschungen, die Dagmar Lott im Ernst Barlach Haus betreibt, ist ihre Rekonstruktion der ehemaligen Kunstsammlung des Hamburger Unternehmers Hermann F. Reemtsma (1892–1961), aus dessen privater Barlach-Kollektion das Museum hervorging. Die 2019 erschienene ausführliche Dokumentation Die Kunstsammlung Hermann F. Reemtsma ist in unserem Museumsshop und im Buchhandel erhältlich.
Trotz des umfänglichen wissenschaftlichen Sammlungsinventars und intensiver Recherche ist eine lückenlose Dokumentation der Provenienzen in vielen Fällen jedoch nicht möglich. Besonders bei Zeichnungen und Druckgrafiken bleibt eine eindeutige Zuordnung zu historischen Quellen und Datenbanken häufig schwierig. In unserer digitalen Sammlung möchten wir unser Wissen um die Herkunft der Werke noch transparenter machen und ermöglichen, vorhandene Provenienzlücken zu schließen.
Barlach sammeln
Über kurze und lange Wege – zwischen Wertschätzung und Gefährdung
Den Grundstein für die heutige Museumssammlung legte der Hamburger Unternehmer Hermann F. Reemtsma mit seiner privaten Barlach-Kollektion, die im Spannungsfeld nationalsozialistischer Kunstpolitik und in den Nachkriegsjahren entstand. Vieles hatte Reemtsma beim Künstler selbst erworben, den er 1934 persönlich kennenlernte und in der Zeit der Verfemung durch die Nationalsozialisten vielseitig förderte. So konnte Barlach zum Beispiel durch einen Auftrag Reemtsmas den Fries der Lauschenden fertigstellen. Die Figurengruppe stand von 1935 bis 1961 im Privathaus des Sammlers am Falkenstein in Hamburg.
Nach Barlachs Tod 1938 erwarb Reemtsma Werke Barlachs aus dem Kunsthandel, aber auch direkt aus dem Nachlass des Künstlers. Durch seine aktive Unterstützung und als Mitglied des Barlach-Gremiums, das sich um die Sicherung des Nachlasses bemühte, hatte er engen Kontakt zu den Erben des Künstlers und zu anderen Sammlern. Viele der Ankäufe damals geschahen über Barlachs ehemaligen Assistenten Bernhard A. Böhmer (1892–1945). Er vermittelte Reemtsma auch Werke aus dem Konvolut der 1937 in deutschen Museen als »entartet« beschlagnahmten Kunst, so zum Beispiel das im Depot für »international verwertbare« Kunstwerke im Berliner Schloss Schönhausen lagernde Holz Das Wiedersehen, das seit 1926 im Besitz des Landesmuseums Schwerin gewesen war, und das Frierende Mädchen, ehemals im Albertinum Dresden. Böhmer hatte sich durch Tausch- und Kaufverträge mit dem Reichsministerium viele Werke Barlachs gesichert – zur Rettung vor der Vernichtung, aber auch zum eigenen Profit. Neben Skulpturen erwarb Reemtsma von Böhmer auch Zeichnungen Barlachs wie etwa das Blatt Der Überfall aus dem Jahr 1911, das zuvor zum Bestand der Kunsthalle Bremen gehörte.
In den 1950er Jahren betrieb Reemtsma intensiv den Ausbau seiner einzigartigen Barlach-Sammlung. Vieles wurde auf Versteigerungen bei renommierten Auktionshäusern wie dem Stuttgarter Kunstkabinett, Dr. Ernst Hauswedell in Hamburg oder im Kunsthaus Lempertz in Köln erworben. Damals hinterfragte kaum jemand die Provenienz der Werke. Die Kunsthändler gaben den Käufern nur selten Hinweise auf deren Herkunft, und noch heute bleiben Forschern Informationen aus deren Geschäftsbüchern meistens verwehrt. Man beruft sich auf die gebotene Diskretion des privaten Handels. Die Provenienz-Recherche aber endet damit allzu häufig bei den Auktionshäusern.
Ein großer Teil des heutigen Bestandes des Ernst Barlach Hauses kam nach dem Tod Hermann F. Reemtsmas durch die kontinuierliche Sammlungstätigkeit der Stifterfamilie hinzu. Seit den 1960er Jahren konnten bedeutende Arbeiten Barlachs erworben werden wie etwa die Holzskulptur Der Rächer von 1922. Einst als »entartet« im Berliner Kronprinzenpalais beschlagnahmt und 1939 bei Theodor Fischer in Luzern versteigert, gelangte diese Skulptur über die Buchholz Gallery–Curt Valentin nach New York. Das Ernst Barlach Haus konnte sie 1975 aus amerikanischem Privatbesitz erwerben.
Die Flamme von 1934 hatte die NS-Verfolgung im Besitz des Güstrower Arztes Dr. Arthur Seemann (1889–1971) überlebt, der sie noch im Entstehungsjahr von Barlach erworben hatte. Verborgen in einer Wandnische, konnte das Werk auch vor dem Zugriff der russischen Besatzungstruppen gerettet werden. Über viele Jahrzehnte blieb Die Flamme in Familienbesitz. Das Ernst Barlach Haus erwarb die Figur 1992 aus dem Hamburger Kunsthandel.
Restitution
Zwei Zeichnungen aus der Sammlung Max Silberberg
Durch die Revision unserer Sammlungsbestände konnten wir im Winter 2019 zwei Zeichnungen Ernst Barlachs, die beide 1978 im Hamburger Kunsthandel erworben wurden, der früheren Sammlung Max Silberbergs zuordnen: Alte Frau auf Krücken von 1919/20 und Fliehendes Paar von 1922.
Max Silberberg (1878–1945) war Kaufmann und Mitinhaber der Firma »M. Weissenburg« in Breslau. Die Galerie in der Villa des jüdischen Kunstsammlers war berühmt, er besaß unter anderem Gemälde französischer Impressionisten wie Monet, Renoir und Pissarro und deutscher Künstler wie Liebermann, Leibl und Marées. Von Bedeutung war auch seine Skulpturensammlung, in der sich etwa Werke von Maillol, Meunier und Matisse befanden.
Als Juden wurden Max Silberberg und seine Familie von den Nationalsozialisten systematisch verfolgt und enteignet. Ab 1935 war er gezwungen, sein gesamtes Vermögen zu veräußern bzw. dem Deutschen Reich entschädigungslos zu überlassen. Während Silberbergs Sohn Alfred mit seiner Frau Gerta rechtzeitig nach Großbritannien emigrieren konnte, wurden Max Silberberg und seine Frau Johanna deportiert und in einem deutschen Konzentrationslager – vermutlich Auschwitz – ermordet.
Große Teile des Kunstbesitzes, der Bibliothek und des Mobiliars von Max Silberberg wurden 1935 und 1936 im Berliner Auktionshaus Paul Graupe versteigert, darunter auch Ernst Barlachs Holzplastik Trauer von 1914, die seitdem verschollen ist. Die Zeichnungen Alte Frau auf Krücken und Fliehendes Paar waren die Losnummern 2 und 3 in der Auktion 147 am 12. Oktober 1935. Leider fehlen in den Unterlagen zur Versteigerung, die sich im Landesarchiv Berlin erhalten haben, Angaben zu den Käufern – eine Provenienzlücke, die sich bis heute nicht schließen lässt. Ebenso wissen wir nicht, wo und wann Silberberg die Zeichnungen erwarb. In den Geschäftsbüchern von Paul Cassirer, Barlachs Kunsthändler in Berlin, findet sich kein Hinweis auf einen Erwerb, obwohl Silberberg dort Kunde war.
Erstaunlich aber ist, dass Hermann F. Reemtsma offenbar schon 1935 Interesse an diesen Zeichnungen hatte. In seinem Originalkatalog der Graupe-Auktion, der sich heute im Archiv des Ernst Barlach Hauses befindet, hat Reemtsma das Fliehende Paar rot markiert. Allerdings erwarb er die Zeichnung damals nicht.
Beide Blätter tauchten erst in den 1950er Jahren in einer Privatsammlung in den USA auf: George P. F. Katz (1894–1972) aus Great Neck / New York lieh sie zu mehreren Barlach-Ausstellungen in Amerika aus. Nach seinem Tod gab seine Witwe Herta Katz (1901–2000) sie in den deutschen Kunsthandel. Das Ernst Barlach Haus erwarb die Zeichnungen am 1. Juni 1978 in Hamburg, als sie bei Hauswedell & Nolte in der Auktion 227 als Losnummern 29 und 30 angeboten wurden.
Mit den neuen Erkenntnissen zur Provenienz der beiden Blätter kontaktierte das Ernst Barlach Haus im Mai 2020 proaktiv die anwaltlichen Vertreter des Nachlasses Silberberg in Berlin. Die Erben von Gerta Silberberg (†2013) in Großbritannien stimmten einer einvernehmlichen Lösung und einer Rückerwerbung durch das Ernst Barlach Haus zu.
Es freut uns sehr, diese beiden wichtigen Zeichnungen Ernst Barlachs weiterhin in unserer Sammlung zu haben.