Das Werk des expressionistischen Bildhauers, Zeichners und Schriftstellers Ernst Barlach (Wedel 1870–1938 Rostock) ist vielschichtig und ambivalent. Barlachs lebenslange Beschäftigung mit der menschlichen Figur verbindet das Streben nach Überzeitlichkeit mit Zeitkritik, konkrete Beobachtung mit Abstraktion, ein karges Formenrepertoire mit Vitalität und Bedeutungsfülle.
»Man klebt die Etiketten ›kultisch‹ und ›mystisch‹ auf meine Arbeiten und zerbricht sich den Kopf darüber, welche Rätsel ich aufgebe und mit wie viel Geschick ich deren Lösung erschwere. Mein Glaube ist: Was sich nicht in Worten ausdrücken lässt, kann durch die Form verfügbar werden und in den Besitz eines anderen übergehen. Ich brauche einen Gegenstand, an dem ich mir die Zähne zu Stücken zerbeiße.«
Ernst Barlach, 1932
Barlachs Weg zum Expressionismus führt von der Auseinandersetzung mit den akademischen Traditionen des 19. Jahrhunderts zunächst zu den gestalterischen Ideen von Naturalismus, Symbolismus und Jugendstil. Nach Jahren der Ausbildung und künstlerischen Suche in Hamburg, Dresden, Paris und Berlin gibt ihm eine zweimonatige Russlandreise 1906 entscheidende Impulse für die radikale Vereinfachung und Monumentalisierung seiner Bildsprache.
In der reduzierten äußeren Gestalt seiner Figuren sucht Barlach elementare innere Vorgänge zu fassen. Die Verschränkung von individueller Gestalt und universellem Gehalt, materieller Begrenztheit und geistiger Freiheit, Verwurzelung im Diesseits und Sehnsucht nach Transzendenz wird zum Generalthema seiner Kunst. Im Bemühen um zeitlos gültige Aussagen über das Menschsein spart Barlach, der ab 1910 zurückgezogen in Güstrow lebt und arbeitet, eine kritische Sicht auf die Gegenwart nicht aus – seine Kunst spiegelt soziale Not und widersetzt sich bürgerlichen Konventionen.
Der Erste Weltkrieg – zunächst als Aufbruch in eine neue Zeit begrüßt, dann als Zusammenbruch der westlichen Zivilisation durchlitten – verstärkt Barlachs Skepsis gegenüber tradierten Weltbildern und Sinnstiftungen. Zunehmend widmet er sich Grundfragen des Glaubens, doch konfessionelle Festlegungen bleiben ihm fremd. Barlachs Interesse am Jenseitigen, rational nicht Fassbaren treibt nicht nur sein skulpturales und grafisches Schaffen an, sondern prägt auch seine gleichnishaften, von eigenwilligen Sprachbildern durchzogenen Dramen.
Nach 1927 gestaltet Barlach mehrfach monumentale Werke für den öffentlichen Raum. In seinen Mahn- und Ehrenmalen für die Opfer des Ersten Weltkriegs findet er grundlegend neue Formen für kollektives Gedenken. Sein demonstrativer Verzicht auf Heldenkult und ungebrochenes Pathos lässt ihn bald zur Zielscheibe »völkischer« Diffamierungskampagnen werden; bis zu seinem Tod 1938 ist er als »entarteter« Künstler nationalsozialistischer Verfemung ausgesetzt.
Trotz massiver Angriffe bleibt Barlach unbeirrbar: Er tritt öffentlich für die Freiheit des Denkens und des künstlerischen Ausdrucks ein und setzt seine Arbeit beharrlich fort. In radikalem Widerspruch zur faschistischen Ideologie von »Gemeinschaft« wendet er sich weiterhin der existenziellen Einsamkeit des Einzelnen zu. Randfiguren der Gesellschaft – Versehrte, Notleidende, Geächtete – bleiben im Zentrum seiner Kunst.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Ernst Barlach in Deutschland schnell rehabilitiert. Längst gilt sein Œuvre als bedeutender Beitrag zur Kunst des 20. Jahrhunderts – und bleibt eine Herausforderung auch für unsere Zeit.